„Wo ist deine Liebe?“

Jean Goss1

 

 „In der Osternacht 1940, mitten im Zweiten Weltkrieg, kurz bevor ich als französischer Soldat gefangengenommen wurde, erwachte ich plötzlich wie außer mir:

Eine ungeheure Kraft der Freude, der Gewißheit und des Friedens begann mich zu durchdringen. Ich war so glücklich, daß ich vor Freude schreien wollte, und erfüllt von einem völlig unverständlichen Frieden. Es war mir, als schwebte ich über den Menschen, die, so schien es mir, jeder mit Gier irgendeiner Sache nachliefen. Zur gleichen Zeit erfüllte mich eine ungeheure Liebe zu ihnen. Ich liebte alle Menschen, und der dringliche Wunsch erwuchs in mir, ihnen das unbeschreibliche Glück, das mich erfaßt hatte, zu geben. Doch wie? Und ich erhielt eine eindeutige Antwort. Es war eine milde, doch ungeheuer mächtige Kraft, die mich weit über meine Grenzen hinaus öffnete. Ohne etwas zu berühren, zu hören oder zu sehen, verstand ich folgendes: ,Ich bin der Vater aller dieser Menschen. Ich bin ihr Schöpfer. Ich habe sie mit unendlicher Liebe erschaffen mit dem Ziel, daß sie völlig glücklich seien. Ich liebe sie weit mehr, als du dir je vorstellen kannst. Ich habe sie erschaffen, damit sie ganz von mir erfüllt, Gott-mit-mir seien, d. h. damit sie lieben, so wie ich sie geliebt habe, bis zur Hingabe meines Lebens für jeden einzelnen von ihnen ... Aber sie wissen es nicht. Deshalb töten sie einander, statt sich zu lieben. Doch nur die Liebe kann sie retten! Lehre sie, sich zu lieben, so wie ich sie liebe‘ ...“

[...]

„Ich tötete so gut, daß ich sehr bald hohe Auszeichnungen erhielt. Doch sehr bald wurde mir klar, daß ich nicht Hitler tötete, nicht einmal Generäle. Die Deutschen, die ich tötete, waren junge Menschen, Arbeiter wie ich, Bauern, Familienväter, einfaches Volk! Ich tötete also weder Hitler noch die verbrecherische Ideologie, sondern ich tötete einfache Menschen, solche, für die ich mein Leben einsetzen wollte. Verriet ich also meine größten Ideale? Und während ich nach außen hin als geachteter Kriegsheld handelte, war ich innerlich ein immer stärker zerbrochener und verzweifelter Mensch.“2

„In dieser Situation war es, nachdem ich fünf Tage und Nächte ununterbrochen gekämpft und getötet hatte und erschöpft einschlief, daß mir, in der Osternacht 1940, alles geschenkt wurde! Als ich erwachte, existierte Jean Goss nicht mehr. Ströme der Freude, der Sicherheit, der Geborgenheit, des Friedens und einer unbeschreiblichen Liebe zu den Menschen erfüllten mich ganz und gar und ein unwiderstehlicher Wunsch stieg in mir auf, dieses Glück mit allen zu teilen. — Kurze Zeit darauf wurden wir gefangengenommen. — Das alles war unerhört stark und überwältigend in mir. Deshalb sprach ich auch lange, Zeit nicht davon. Ich war unfähig dazu, und wenn ich es versuchte, verspottete man mich.“

Langsam erschloß sich für Jean während der fünfjährigen deutschen Kriegsgefangenschaft im Raum östlich von Lübeck die Bedeutung dieses Ereignisses, das sein Leben revolutionierte. Was sich zunächst als überwältigendes Glück äußerte, das den Kriegsgefangenen hinaustrieb in die Wälder, um stundenlang zu singen, zu loben, Gottes Liebe hinauszuschreien, nahm nach und nach Gestalt an. Die Gestalt eines Menschen: Christus.

„Christus offenbarte sich mir nicht als Idee, Ideologie, Doktrin oder Religion. Er zeigte sich mir als das, was ich kannte: als MENSCH. In Christus habe ich DEN MENSCHEN getroffen, nach dem ich mich im Innersten sehnte, den, der alle Menschen ohne Ausnahme liebt — die Guten und die Schlechten, die Arbeiter und die Bosse, die Gläubigen und die Ungläubigen, die Ausgebeuteten und ihre Unterdrücker, weil sie alle vom Vater in Liebe geschaffen sind. Dieser Mensch trug einen besonderen Namen: LIEBE. Dieses Wort wird so mißbraucht, daß es für viele sinn-los ist. Aber für mich hat es einen ganz präzisen Sinn erhalten: Diese Liebe ist weder sentimental noch romantisch. Sie ist Wahrheit und Gerechtigkeit, nichts anderes. Deshalb ist sie aktiv, dynamisch und aggressiv — gegen das Böse, das Unrecht, aber niemals gegen den Menschen! — Sie schafft Leben, ununterbrochen und überall. Das heißt, diese Liebe verleiht dem Menschen seine volle menschliche und göttliche Dimension. Und schließlich wurde mir klar, daß diese Liebe die einzige Kraft ist, die zu erlösen und zu befreien vermag. Denn sie zahlt den Preis für den andern, so wie Jesus am Kreuz. Sie läßt sich nicht vom Unrecht anstecken und setzt es nicht fort, im Gegensatz zu dem, was ich als Soldat getan hatte.“

„Wie, so fragte ich mich, wie kann man das den Menschen deutlich machen? Ich fand nur einen Weg: versuchen, es zu leben. Ich habe also begonnen, zu den Kameraden im Lager von dieser Liebe zu sprechen. Sie sagten: ,Das ist großartig, aber die Liebe ist eine Utopie!‘ ̦Vielleicht‘, erwiderte ich, aber ich glaube daran!‘ Und ich versuchte, diese Liebe zu allen in unserem Lageralltag umzusetzen, mehrere Monate hindurch. Doch das Ergebnis war: Untreue, Verrat. Ich fragte mich nach dem Grund, suchte lange danach. Und Gott ließ mich verstehen, daß es unmöglich ist, diese Liebe allein zu leben; sie kann nur mit Hilfe anderer, in Gemeinschaft verwirklicht werden. Eines Sonntagsabends sprach ich zu meinen Kameraden über meine Unfähigkeit, diese Liebe zu leben. Sie meinten, das hätten sie gleich gewußt. Ich aber bestand darauf: ,Ich glaube daran. Wollt ihr mir helfen, sie zu verwirklichen? Es ist ganz einfach. Wenn ihr seht, daß ich diese Liebe nicht lebe, dann sagt es mir.‘ Zuerst schwiegen alle, dann aber erklärten sie sich dazu bereit. Und jedesmal, wenn es mir nicht gelang, meine Liebe zu leben, riefen sie: ,He, Goss, das also ist deine Liebe?‘ Und es half mir voranzukommen.

Eines Tages gab es im Kommando ein schweres Problem, und ich sah keinen Weg, aus der Perspektive der Liebe eine Lösung zu finden. Und so verhielt ich mich wie alle anderen, d. h. ich tat nichts. Niemand sagte ein Wort. Doch am Abend, als alle schliefen, kam ein Kamerad, der sich als Atheist bezeichnete, zu meinem Strohlager und sagte: ,Also Goss, und deine Liebe?‘ ja‘, antwortete ich, ich sah wirklich keinen Ausweg.‘ ,Doch, du hättest folgendes tun können.‘ ,Ja, du hast recht morgen werde ich es tun.‘ ,Nein, nein, tu es nicht, du bist verrückt!‘ ,Es gibt einen, der verrückter war als wir, er starb aus einer verrückten Liebe zu uns am Kreuz!‘ Und am nächsten Morgen tat ich, was er vorgeschlagen hatte.

Einige Monate später gab es noch ein viel schlimmeres Problem in unserem Lager. Diesmal sah ich sehr wohl, was ich tun müßte, aber ich hatte nicht den Mut. Und ich verhielt mich wie alle anderen: Ich tat nichts! Niemand sagte ein Wort. Doch als alle schliefen, kam ein Marxist, der mich oft verspottet hatte, und sagte: ,Goss, seit Monaten beobachte ich dich, sehe ich dich an. Diese Liebe schien mir der Weg zu sein. Und du hast nichts getan!‘ Ja, ich hatte nicht den Mut.‘ ,Also‘, erwiderte er, ist sie doch unmöglich, eine Utopie!‘ ‚Ja‘, sagte ich, sie ist eine Utopie, aber ich glaube an sie! Sag mir, was ich hätte tun sollen.‘ ,Das und das.‘ Ja`, sagte ich, ,aber sag mir, wie kommt es, daß du, der Kommunist, so leicht erkenntst, was man aus Liebe tun soll?‘ ,Ach‘, erwiderte er, mein guter Goss, die Liebe ist so alt wie die Welt, und alle wissen, was man aus Liebe tun soll; doch höre, es ist unmöglich, eine Utopie!‘ ‚Ja, aber ich glaube daran, und jetzt, wo wir darüber gesprochen haben, habe ich keine Angst mehr. Du hast mir geholfen. Ich danke dir.‘

Am nächsten Morgen ging ich zum Lagerleiter. Es war eine schreckliche Begegnung. Als ich ihm sagte, ich wolle die ganze Verantwortung für den Konflikt auf mich nehmen, schrie er: ,Nein, du nicht, geh weg. Du darfst das nicht tun!‘, und er stieß mich hinaus. Ich wußte nicht, was tun. Ich war erschüttert: Er, der Nazi, der SS-Mann tat das, was ich tun wollte! Zwei Tage später wurde er von der Militärpolizei abgeführt.

Und so kam alles in Gang. Der Marxist kam und sagte: ‚Jean, auch ich glaube an diese Liebe. Du wirst nun für mich tun, was wir für dich taten.‘ Dann schloß sich ein Pastor an und andere Kameraden. Wir waren nie mehr als 7 oder 8 im ganzen Lager, die versuchten, diese absolute Liebe zu leben. Doch andere teilten das Bemühen in geringerem oder stärkerem Maße. So wurde durch diesen Versuch, die Liebe zu leben, das ganze Lager verändert. Gefangene kamen aus der ganzen Gegend und fragten: ,Was macht ihr in diesem Lager?‘ ,Nichts, wir versuchen zu lieben, so wie Christus uns geliebt hat.“

In einem Brief an mich bekräftigt Jean diese Erfahrung: „ ... ein anderes Mal hatte ich mich in einem schweren Konflikt eingesetzt, wurde geschlagen, gefoltert und schließlich zum Tod verurteilt. Kurz vor dem Zeitpunkt der Exekution sprach ich zu dem befehlshabenden deutschen Offizier von der Freude, daß ich nun mit dem Gott der Liebe ganz vereint sein würde. Ich sprach von dieser ungeheuren Liebe Gottes zu ihm, zu allen Menschen und liebte ihn mit allen Kräften und aus ganzem Herzen. Weißt Du, man kann diese Begebenheit erzählen, aber was man schwer ausdrücken kann, ist, daß der Offizier diese Liebe gespürt hat! Die Art und Weise, wie er den Revolver beiseite legte — sagte alles. Er verweigerte die Exekution und wurde verhaftet. Ich sah ihn nie wieder. — Weißt Du, vorher bemühte ich mich, die Deutschen, die Lagerleiter zu lieben. Aber ich habe sie erst wirklich geliebt, als ich geschlagen und gefoltert wurde. Das hat in mir eine unglaubliche, ganz unwahrscheinliche Liebe ausgelöst! Und, siehst Du, in diesem Augenblick habe ich verstanden, daß nicht ich es bin, der liebt, sondern daß ER, Jesus Christus, in mir liebt!“

„Wenn diese Liebe so stark ist, daß sie selbst einen Nazi, einen Feind um-kehrt, dann, so sagte ich mir, ist sie die wahrhaft revolutionäre Kraft, die die Menschen und die Welt neu machen kann. Deshalb kann es für uns Christen keinen Krieg, keine Gewalt gegen Menschen, gegen die Schöpfung geben. Ich begann, mit Kameraden das Evangelium zu lesen und auszulegen, und ich entdeckte im Befreiungsweg der Liebe Jesu Bestätigung und Vertiefung dessen, was mir geschenkt worden war.“10

1945 kehrte Jean Goss in ein zerstörtes, politisch zerrissenes und verarmtes Frankreich zurück, erfüllt von dem brennenden Wunsch, sich „jeden Augenblick dem Willen Gottes und der Liebe Jesu total zur Verfügung zu stellen zur Befreiung und Erlösung aller. Die Menschen mehr und mehr zu lieben und ihnen zu helfen, selbst lieben zu lernen.“ „Zum Ärgernis seiner Familie nimmt er Obdachlose in die Wohnung auf und teilt das Letzte. „Soll ich Dir von meiner letzten Narrheit erzählen? Du weißt, wie sehr ich mein altes Motorrad liebe. Ich habe es einem Kameraden geborgt, damit er einmal mit seiner Frau Ferien machen kann, von denen er so lange träumte. Ich habe auch mein Fahrrad, den Photoapparat und Feldstecher hergeborgt und alles Geld für Ferien kinderreicher Familien. Erst jetzt, da ich alles gegeben habe, darf ich von Nächstenliebe sprechen. Jetzt fühle ich mich in der Wahrheit, frei und erfüllt vom Frieden, den Jesus schenkt.‘ Er wird zum „konkreten Jesus“ für Arme und Schwache, wie ein typischer Brief von einem gelähmten Atheisten, den Jean mit dem Zug in ein Asyl begleitet, bezeugt: „ ... Ich habe den ganzen Sonntag Abend an Dich gedacht — es fiel mir schwer, mich von Dir zu trennen, mein lieber Jean. Du bist in meinem Leben die letzte Liebesspur, das einzige, was übrigblieb, nachdem meine Frau und meine Eltern mich fallen ließen ... Und jetzt ist alles vollbracht. Ich bin allein und liege auf dem idiotischen schmalen Bett, den Tod in der Seele ... Ich liebe Dich sehr, mein Jean“ (20. 1. 1949).

 

Anmerkungen



1Hildegard Goss-Mayr, Wie Feinde Freunde werden. Mein Leben mit Jean Goss für Gewaltlosigkeit, Gerechtigkeit und Versöhnung, Freiburg 1996,19-20; 24-29.

2 Jean Goss wurde als Unteroffizier in einem vorwiegend algerischen Artillerieregiment eingesetzt, das geopfert wurde, um den Rückzug der französischen Nordarmee über Dünkirchen nach Großbritannien im Mai 1940 zu sichern. In einer Zangenbewegung schnitt die deutsche Armee die französischen Truppen ab und machte 1,2 Millionen Gefangene. Zu diesen zählte Jean Goss.